Projekte waren schon immer eine komplexe Herausforderung und mussten immer mit dem Unvorhersehbaren, dem Überraschenden und dem Unerwarteten umgehen. Das war schon vor 200 Jahren so und ist auch heute noch so. Allerdings nimmt die Komplexität von Jahr zu Jahr zu, besonders auch wenn IT-Technologien im Spiel sind.
Es ist schwieriger vorherzusagen, was passieren wird, weil komplexe Systeme auf unerwartete Weise interagieren. Es ist schwieriger, sich einen Überblick zu verschaffen, weil der Grad der Komplexität unsere kognitiven Grenzen überschreiten kann. Und es ist schwieriger, Wetten abzuschließen, weil das vergangene Verhalten eines komplexen Systems nicht unbedingt auf sein zukünftiges Verhalten schließen lässt. Das PMBOK Seventh Edition enthält nun auch das Thema Komplexität und wie dieses mit dem Risikomanagement zusammenhängt. Ich wollte mein Wissen vertiefen und konnte es nicht lassen, diesen Artikel zu schreiben. Lesen Sie weiter, um auch Ihr Wissen zu vertiefen!
Kompliziert versus komplex
Es ist leicht, das bloß Komplizierte mit dem wirklich Komplexen zu verwechseln. Es ist wichtig, dass Sie den Unterschied kennen. Wenn Sie eine komplexe Organisation oder ein komplexes Projekt so verwalten, als wäre es einfach nur kompliziert, werden Sie schwerwiegende und teure Fehler machen.
Beginnen wir mit einfachen Systemen. Diese enthalten nur wenige Interaktionen und sind sehr vorhersehbar. Stellen Sie sich vor, Sie schalten ein Licht ein und aus: Dieselbe Aktion führt jedes Mal zum selben Ergebnis.
Komplizierte Systeme haben viele bewegliche Teile, aber sie funktionieren nach einem bestimmten Muster. Das elektrische Netz, das das Licht versorgt, ist kompliziert: Es gibt viele mögliche Wechselwirkungen, aber sie folgen normalerweise einem Muster. Es ist möglich, genaue Vorhersagen darüber zu machen, wie sich ein kompliziertes System verhalten wird. Hier ein weiteres Beispiel: Das Fliegen eines Verkehrsflugzeugs erfordert komplizierte, aber vorhersehbare Schritte und ist deshalb überraschend sicher.
Komplexe Systeme hingegen sind mit Merkmalen oder Elementen ausgestattet, die zwar nach einem bestimmten Muster funktionieren, deren Wechselwirkungen sich aber ständig ändern. Drei Eigenschaften bestimmen die Komplexität einer Umgebung. Lesen Sie weiter und entdecken Sie diese.
Die drei Eigenschaften, welche die Komplexität bestimmen
Drei Eigenschaften eines komplexen Systems sind:
- Multiplizität (Multiplicity) bezieht sich auf die Anzahl der potenziell interagierenden Elemente.
- Interdependenz (Interdependence) bezieht sich darauf, wie sehr diese Elemente miteinander verbunden sind.
- Vielfalt (Diversity) hat mit dem Grad ihrer Heterogenität zu tun.
Je größer die Multiplizität, die Interdependenz und die Vielfalt sind, desto größer ist die Komplexität. Komplexität ist immer ein Merkmal eines Projekts, weil es eine große Anzahl interaktiver, voneinander abhängiger und vielfältiger Elemente enthält. Die Komplexität eines Projekts kann durch eine größere Anzahl von Schnittstellen zu bestimmten Systemen oder durch eine Vielzahl von Beteiligten noch erhöht werden, wie z. B. durch Aufsichtsbehörden, internationale Finanzinstitutionen, mehrere Anbieter, zahlreiche spezialisierte Unterauftragnehmer oder lokale Kommunen/Behörden. Diese sind natürlich schwer zu managen und können in unvorhersehbarer Weise reagieren.
Für einen Entscheider ist es sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich, ein ganzes komplexes System zu überblicken. Dies ist im Wesentlichen ein Problem des Blickwinkels: Es ist schwierig, eine Vielzahl von Beziehungen von einem einzigen Standort aus zu beobachten und zu verstehen. In einem komplexen Umfeld können selbst kleine Entscheidungen überraschende Auswirkungen haben.
Die Quellen der Komplexität
Nach dem PMBOK® Guide sind einige der häufigsten Quellen von Komplexität in Projekten folgende:
- Menschliches Verhalten ist das Zusammenspiel von Verhalten, Einstellungen und Erfahrungen von Menschen. Menschliches Verhalten kann auch zur Komplexität beitragen, indem es Elemente der Subjektivität einbringt, wie z. B. persönliche Interessen, die mit den Projektzielen in Konflikt stehen. Stakeholder, die sich an entfernten Orten befinden, haben möglicherweise unterschiedliche Zeitzonen, sprechen unterschiedliche Sprachen und haben unterschiedliche kulturelle Normen.
- Systemverhalten ist das Ergebnis dynamischer Interdependenzen innerhalb und zwischen den Projektelementen. So können beispielsweise die Integration verschiedener technischer Systeme oder die Wechselwirkungen zwischen den Komponenten des Projektsystems zu miteinander verknüpften Risiken führen.
- Ungewissheit und Mehrdeutigkeit (Uncertainty and Ambiguity): Mehrdeutigkeit ist ein Zustand der Unklarheit, der Ungewissheit darüber, was zu erwarten ist oder wie eine Situation aufgrund mangelnder Kenntnisse zu verstehen ist.
Ungewissheit ist das fehlende Verständnis und Bewusstsein für mögliche Probleme, Ereignisse, Wege oder Lösungen, die zu verfolgen sind. Ungewissheit kann in reduzierbare und nicht-reduzible Unsicherheit unterschieden werden. Im PMBOK wird insbesondere “Ambiguity” (Mehrdeutigkeit) erwähnt, die eine epistemische Unsicherheit darstellt. Dies ist eine Unsicherheit, die auf fehlendem Wissen beruht. Lesen Sie mehr über die verschiedenen Arten von Ungewissheiten in diesem Artikel: Wie Sie reduzierbare und nicht reduzierbare Risiken erfolgreich managen.
- Technologische Innovationen können zu Veränderungen/Störungen bei Produkten, Dienstleistungen, Arbeitsweisen, Prozessen, Werkzeugen, Techniken, Verfahren und vielem mehr führen. Neue Technologien und die Ungewissheit darüber, wie diese Technologie eingesetzt wird, tragen zur Komplexität bei. Innovationen haben das Potenzial, Projekte auf dem Weg zu einer Lösung zu unterstützen oder das Projekt zu stören, wenn die damit verbundenen Ungewissheiten nicht definiert sind, was zu erhöhter Komplexität führt.
Komplexität schafft Ungewissheit und aus Ungewissheit entstehen Risiken. Diese Risiken können Projekte in jedem Bereich und zu jedem Zeitpunkt des Projektlebenszyklus beeinträchtigen.
Wie mit der Komplexität umgehen und die damit verbundenen Risiken mindern?
In einem komplexen Umfeld können selbst kleine Entscheidungen überraschende, unbeabsichtigte Folgen haben. Wenn es unmöglich ist, die Zukunft in einem komplexen System mit einem hohen Maß an Genauigkeit vorherzusagen, z. B. das Kundenverhalten, und wenn Projekte oder Organisationen dennoch Wetten mit Blick auf die Zukunft abschließen müssen, was ist dann der klügste Weg? Die Risikominimierung ist für jeden, der für ein komplexes System verantwortlich ist, von entscheidender Bedeutung, und herkömmliche Ansätze sind nicht gut genug. Manager müssen z.B. folgendes lernen:
Elemente der Komplexität identifizieren: Projektteams müssen während des gesamten Projekts Elemente der Komplexität erkennen, indem sie sowohl die Projektkomponenten als auch das Projekt als Ganzes kontinuierlich auf Anzeichen von Komplexität untersuchen.
Komplexität adressieren: Um die Komplexität zu adressieren, können Projektteams mehr Wissen erwerben, um die Komplexität besser zu verstehen und z. B. ihre Aktivitäten so zu ändern, dass sie die aus der Komplexität resultierende Ungewissheit bewältigen, oder sie können Elemente eines Projektes vereinfachen, um so die Komplexität zu verringern.
Vorhersagen limitieren: Limitieren oder eliminieren Sie die Notwendigkeit genauer Vorhersagen, z. B. darüber, wie die Märkte auf ein neues Produkt reagieren werden. Testen Sie die Märkte bei der Produktentwicklung z. B. mit einem Minimum Viable Product (MVP) oder beziehen Sie Ihre Kunden in den Produktentwicklungsprozess ein, um direktes Feedback zu erhalten und daraus zu lernen.
Das Wissen vertiefen: Kenntnisse über Systemdenken, komplexe adaptive Systeme, Erfahrungen aus früheren Projekten (Lessons Learned), Experimente und kontinuierliches Lernen bezüglich der Interaktion von Systemen führen dazu, dass das Projektteam besser in der Lage ist, mit Komplexität umzugehen oder wenn diese auftritt.
Entkopplung und Redundanz nutzen: Manchmal können Elemente eines komplexen Systems voneinander getrennt werden, um die systemischen Folgen zu verringern, wenn etwas schief geht. Die Entkopplung bringt zwei Vorteile mit sich: Zum einen werden Teile des Projekts oder der Organisation vor den Risiken eines unerwarteten Ereignisses geschützt, zum anderen bleiben Teile erhalten, die möglicherweise für eine Reaktion benötigt werden.
Kreativitätsmethoden verwenden: Brainstormen Sie mit Ihrem Team, welche negativen Ereignisse oder Chancen eintreten könnten. Sorgen Sie auch dafür, dass die Mitarbeiter unwahrscheinliche, aber potenziell katastrophale zukünftige Ereignisse als real ansehen. Das Erzählen von Anekdoten über Beinaheunfälle und das Üben von Reaktionen auf ein angenommenes negatives Ereignis kann dazu beitragen, die Aufmerksamkeit auf ein möglicherweise bedeutendes zukünftiges Ereignis zu lenken. Sie können sich auch verschiedene Szenarien vorstellen, was die Komplexität bewirken könnte, z. B. durch das Aufstellen von Counterfactuals, wenn Sie fragen: “Was wäre wenn?”
Komplexität ist der Feind der Klarheit
Andy Stanley
Meine Erfahrung zeigt, dass Projektteams die Komplexität ihres Vorhabens oft unterschätzen oder sie nicht vorhersehen können, weil die Komplexität das Ergebnis einer Vielzahl von Ungewissheiten, mangelndem Wissen, vielen Wechselwirkungen, Abhängigkeiten, Ereignissen oder Beziehungen ist. Die Folgen dieser Komplexität sind Risiken, die, wenn sie eintreten, oft zu massiven Budget- und Terminüberschreitungen führen. Ich schlage vor, dass Sie das Thema Komplexität in Ihren Risikomanagement-Aktivitäten mit Ihrem Team ansprechen und diskutieren, wie Sie damit umgehen sollen.
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Quellen für diesen Artikel:
PMBOK® Guide Seventh Edition
Learning to Live with Complexity, Harvard Business Review, 2011